Die Welt schlief.

Fenjala-Jolié und Aurora-Britney saßen gemütlich auf ihren Betten in der Ferienwohnung auf Sylt und lasen in ihren Büchern. Die Eltern hatten sich zur Mittagsruhe ins Wohnschlafzimmer zurückgezogen.
Fenjala-Jolié erinnerte sich der mehrmaligen Aufforderung ihrer Mutter, ihren feuchten Bademantel aufzuhängen, ergriff ihn nachlässig, hob ihn vom Bett auf und hängte ihn in einer lässigen Schleuderbewegung an den Türhaken. Dabei streifte sie – unbeabsichtigt – mit einem Zipfel ihres Bademantels das oberste Buch eines Stapels von Büchern auf Aurora-Britneys Nachttischchen. Der kleine Schubs des Bademantels genügte, um das halb auf der Kippe liegende Buch abstürzen zu lassen.

Die Welt drehte sich im Schlaf von der einen auf die andere Seite.

Aurora-Britney bemerkte die Folgen von Fenjala-Joliés Unachtsamkeit und schnauzte ihre Schwester an: „Kannst du nicht aufpassen, Trampel?“
Fenjala-Jolié, sich keiner Schuld bewusst, antwortete trotzig mit der Gegenfrage: „Was ist denn los?“, und ergänzte ärgerlich: „Selber Trampel!“
Die Welt wurde unruhig und wälzte sich ein bisschen hin und her.
„Du hast mein Buch runtergeschmissen! Das hast du doch extra gemacht?!“, keifte Aurora-Britney.
Fenjala-Jolié fühlte sich zum zweitenmal zu Unrecht beschuldigt und fauchte zurück: „Gar nicht! Blöde Kuh!“
„Selber blöde Kuh!“, entgegnete Aurora-Britney aggressiv, „jetzt mach ich das gleiche wie du!“ Und mit diesem Worten stand sie von ihrem gemütlichen Liegesitz auf, ging zu Fenjala-Joliés Nachttisch und räumte ihr mit einer forschen Handbewegung gleich drei Bücher herunter. Das war so nicht geplant, eigentlich sollte es nur ein Buch sein – wie du mir, so ich dir – aber die Folienumschläge der Leihbücher der Inselbücherei der evangelischen Kirchengemeinde Sylt klebten ein wenig zusammen, sodass es jetzt zu dem kleinen ungewollten Massenabsturz kam.

Die Welt lag nun etwas verkrümmt und verdreht, und in ihrem Bauch spürte sie ein leichtes Zwicken.

Diesen Angriff Aurora-Britneys konnte Fenjala-Jolié nur noch kontern, indem sie Aurora-Britneys Bademantel von dem einzigen Stuhl im Zimmer riss und in den Flur vor ihrem Zimmer warf: „Und die Mama hat dir schon ein paarmal gesagt, dass du deinen Bademantel aufhängen sollst!“
Fenjala-Jolié ahnte Aurora-Britneys Reaktion und so grapschten sie gleichzeitig nach Fenjala-Joliés Bademantel.
Nun begann ein Ziehen und Zerren, ein Hauen und Schlagen, in das dann auch Zimmertüren einbezogen wurden. Der Kampfplatz weitete sich bis in den Flur und schließlich bis ins Wohnschlafzimmer aus, in dem die Eltern im Mittagsschlummer gestört, schon reichlich genervt auf das Ende des Streites warteten.

Die Welt war jetzt aufgewacht. Laut rumorte es in ihrem Bauch und das Zwicken und Zwacken nahm noch zu.

Im Wohnschlafzimmer wurde der Stoff des Bademantels weiter heftigen Zerreißproben unterzogen. Wie ein Propeller kreisend wirbelten die Geschwister um den Bademantel herum. Die Blumenvase mit dem großen Strauß frischer Sonnenblumen kippte um und das Blumenwasser ergoss sich über Tischdecke, Polsterstühle und Teppich. Eine Gardinenstange wurde heruntergerissen, der Vorhang rutschte zur Seite …

Die Welt war jetzt aufgestanden und ein paar Schritte zum Fenster gegangen, hatte es geöffnet und blickte in den klaren Sternenhimmel. In ihrem Darm grollte es wie Donner.

Im wilden Toben um den Bademantel hatte der herunterrutschende Vorhang einen Wandkalender abhängt, dessen dünne Papierblätter sich wie ein Fächer auf der noch heißen Herdplatte entfalteten.

Die Welt stand nun breitbeinig am geöffneten Fenster und versuchte sich zu entspannen.

Die Eltern hatten längst gramgebeugt das Haus verlassen, jedes Teil in eine andere Richtung, als die Flammen den Dachstuhl erreichten, drinnen aber das Ringen um den Bademantel noch heftiger entbrannte. Man hatte zu Brotmesser und Pfanne gegriffen, hieb und stach, bereits aus vielen Wunden blutend, aufeinander ein. –
Am nächsten Tag entdeckte die Feuerwehr, als sie die letzten Glutherde des restlos herunter gebrannten Hauses gelöscht und mit Aufräumarbeiten begonnen hatte, an der Wäschespinne in der hintersten Ecke des großen Gartens die Mutter. Sie hatte sich mit einer Wurstkordel aufgehängt.
Den Vater, bzw. Reste von ihm entdeckten noch am gleichen Tag einige Angler im Sylter Hafen. Er hatte sich mit einem Drahtseil an die Schiffsschraube der großen Fähre gebunden und war bei ihrer fahrplanmäßigen Abfahrt um 10.30 Uhr in die Schraube gezogen und in Stücke zerhackt worden.

Die Welt stand jetzt günstig, ein letztes Grollen im Darm kündete von alsbaldiger Erleichterung und mit einem heftigen Furz entluden sich ihre Blähungen.
Entspannt ging sie wieder zu Bett und schlief weiter.


Hintergrund
– Zwerenz, Gerhard 1972: Nicht alles gefallen lassen. Frankfurt: Fischer