Krisen machen Menschen sichtbarer.
Geht es allen einigermaßen gut („Schönwetter-Demokratie“- Alfred Grosser) sind die Reibungsflächen zwischen Menschen nicht bedeutsam. Es gibt dann keine großen Konflikte, keine großen Verteilungskämpfe.
In Krisenzeiten ändert sich das. Tatsächliche oder auch nur gefühlte Einschränkungen machen die wahren Grundhaltungen und tief verwurzelten Persönlichkeitsmerkmale von Menschen deutlicher sichtbar. Interessengegensätze prallen nun härter aufeinander und entladen sich verstärkt in Konflikten, häufig und schnell dann auch gewaltsam.
Die einen zeigen nun deutlicher ihr Mitgefühl und ihre Hilfsbereitschaft. Sie helfen den Menschen, die Hilfe benötigen. Sie verhalten sich solidarisch. Menschen in Heil- und Pflegeberufen gehen häufig bis an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit, um anderen Menschen zu helfen.
Die anderen, die Egoisten, versuchen nun härter, ihre Interessen durchzusetzen. Sie verhalten sich dabei verstärkt selbstbezogen und rücksichtslos gegenüber anderen, unsolidarisch und empathielos. In der Tendenz ist ihnen jedes Mittel recht, ihre eigenen Interessen durchzusetzen. Deswegen lehnen sie auch jeglichen Diskurs ab, sind Argumenten, Fakten und wissenschaftlichen Erkenntnissen nicht zugänglich, weil sie sich sowieso und schon immer im Besitz der einzigen Wahrheit wähnen oder picken sich selektiv nur genau das heraus, was ihnen nützt. Das Cui bono? (Wem nützt es?) können sie immer eindeutig beantworten, auch wenn sie das selten laut sagen. Sie klöppeln sich eine eigene „Wahrheit“ zusammen, die ihnen ermöglicht, ihre Eigensüchtigkeit zu kaschieren und auszuleben; auch auf Kosten anderer Menschen und bemäntelt sie mit einem willkürlichen Rechtfertigungs-Gebräu.
In Folge dieser Zuspitzungen in Krisenzeiten zerbrechen auch Freundschaften. Freundschaften, deren Fundament sich nun als tragfähig wie nasses Toilettenpapier erweisen. Es gab offensichtlich bisher nichts Wichtiges, dass diese sogenannten Freundschaften trug. Sie waren beliebig und möglicherweise dem Zufall geschuldet. Gespräche erwiesen sich, bei genauerem Hinsehen, eigentlich nur als oberflächliches Blabla. Man ging gemeinsam ins Kino und dann was trinken. Man fuhr zusammen in den Urlaub. Ach war das schön. Nun, in Krisenzeiten, geht es um wichtiges, und es scheiden sich die Geister. Der Mensch offenbart sich und sein wahres Wesen tritt hervor. Bei genauerem Hinsehen in die Vergangenheit entpuppen sich dann weitere Belege eigensüchtigen und habgierigen Verhaltens, die bis dahin unentdeckt geblieben waren, oder man hat sie einfach wegignoriert. Zivilisation gegen Reptilienhirn. Was setzt sich durch?
In Krisenzeiten entledigt sich der Egoismus seiner Verschleierung, dadurch wird der Umgang mit den Mitmenschen sehr viel einfacher und klarer.
Hintergrund
– Bernau, Patrick 2021: Fürchte deinen Nächsten! Freunde besuchen, Fleisch essen, nach Mallorca fliegen: Ziemlich viel, was Menschen tun, gilt als gefährlich für andere. Wie kommen wir da bloß wieder raus? In: FAZ Nr. 13 vom 04.04.2021, Seite 19
– Pantel, Nadia 2021: Sie nennen es Arbeit. Das Gastronomieverbot wird in Paris mit Privatclubs umgangen. In: SZ Nr. 83 vom 12.04.2021, Seite 6
– Arno, Titus 2021: In der Pandemie zeigen sich viele spendabler als sonst. In: SZ Nr. 97 vom 28.04.2021, Seite 1
– Borchert, Wolfgang 1946: Das Brot. Hamburger Freie Presse