Digitalisierung und Globalisierung befördern die Komplexität der Welt in bisher nicht gekanntem Ausmaß. Nun erhöhen noch zunehmend Pandemien diese Komplexität.
Wenn schon ein bisschen Kompliziertheit viele Menschen überfordert und ängstigt, was passiert dann, wenn hohe Komplexität verbunden mit einer geringen Einschränkung von Lebensqualität oder gar Existenzbedrohung zu bewältigen sind?
Hier steht ziemlich genau das drin, was Wissenschaftler schon 2012 prognostizierten:
Deutscher Bundestag 17. Wahlperiode. Unterrichtung durch die Bundesregierung. Bericht zur Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz 2012. Drucksache 17/12051 vom 03. 01. 2013
Risikoanalyse Bevölkerungsschutz Bund. Pandemie durch Virus „Modi-SARS“ Stand: 10.12.2012, Seite 55-88 > https://www.bbk.bund.de/SharedDocs/Downloads/BBK/DE/Downloads/Krisenmanagement/BT-Bericht_Risikoanalyse_im_BevSch_2012.pdf;jsessionid=9EA833ABA72D1213A06B9B569E539857.1_cid508?__blob=publicationFile
Cynefin-Framework verschafft Übersicht
Cynefin-Framework ist ein Modell für Wissensmanagement und wurde von Waliser Dave Snowden entwickelt. Cynefin ist walisisch [kä:niwin] und meint eine „gefühlte Zugehörigkeit“, „Platz“ oder „Lebensraum“, in welchem Erfahrungswerte aus allen gesellschaftlichen Bereich eine Bedeutung besitzen.
Es basiert auf der Annahme, dass alle menschlichen Interaktionen letztlich erfahrungsbedingt sind, seien es persönliche oder kollektive, kulturelle Erfahrungen. Das Modell versucht in komplexen und unübersichtlichen sozialen Umwelten Orientierung zu geben und Handlungsmöglichkeiten zu beschreiben, also die beste Lösung für die jeweilige Situation anzubieten.
Cynefin-Framework beschreibt fünf Domänen von Zuständen und ihre entsprechenden Handlungsoptionen.
1.) Domäne „Clear“:
In Zuständen, die „simple“ bzw. „obvious“ sind, ist der Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung deutlich sichtbar und für jeden leicht nachvollziehbar. Insofern eigenen sich bewährte Praktiken (best practice). Aus Erfahrung weiß man, was funktioniert hat und kann Strategien aus diesen bekannten Fällen leicht übertragen: erkennen – kategorisieren – reagieren (Sense – Categorise – Respond). KANBAN ist das Mittel der Wahl, um den Prozess formal zu begleiten.
2.) Domäne „Complicated“:
Nur mit Expertenwissen lassen sich diese Zustände bewältigen, da Ursache und Wirkung nicht einfach zu erkennen sind. Es braucht sorgfältige fachwissenbasierte Analyse. Als Vorgehensweise ist zu empfehlen: erkennen – analysieren – reagieren. Dann sind naheliegende Ergebnisse über gute Praktiken zu erreichen (good practice).
3.) Domäne „Compex“:
Bei komplexen Zuständen können Ursache und Wirkung erst im Nachhinein erkannt werden. Hier helfen nur emergente Praktiken (emergent practice) mittels Versuch und Irrtum (trial & error): ausprobieren – erkennen – reagieren (Sense – Respond).
4.) Domäne „Chaotic“:
Es gibt nur systemische Beziehungen zwischen Ursachen und Wirkungen. Diese sind aber aufgrund ihrer nicht kalkulierbaren Interdependenzen auch nicht analytische belegbar. Ähnlich der Handlungsempfehlung bei komplexen Zuständen ist es nur möglich, über Praktiken nach möglichen Wirkungen zu suchen. Diese Praktiken sollten allerdings in diesem Fall innovativen Charakter haben, da auf Erfahrungswissen selten zurückgegriffen werden kann. Auch hier bietet sich ein Trial & error als Methode an (prototyping).
5.) Domäne „Disorder“:
In absolut unklaren Zuständen gibt es keine Handlungsempfehlung. Menschen neigen dazu, in ihren eigenen Komfortzone zu bleiben. Diese Selbstzufriedenheit führt aber zwangsläufig zum Scheitern.
In einer Pandemie beispielsweise lassen sich mehrere Zustände, also Domänen, gleichzeitig ausmachen. Der Grad der Komplexität der Bewältigungsstrategien erhöht sich damit sehr stark und führt bei vielen Menschen zur Überforderung. Jede Prozessbewegung in unbekanntem Terrain erfordert immer wieder und ständig neue Bewertungen der Situation. Entsprechend müssen ständig andere Perspektiven eingenommen und andere Handlungsoptionen in den Fokus der Betrachtung geholt werden und auch innovative Konzepte kreiert werden. Das ist der Alltag von Wissenschaft. Es bedeutet ein Leben in ständiger Unsicherheit.
Zur Bewältigung solcher Szenarien bedarf es eines bei den betroffenen Menschen besonders hohen Grades an Ambiguitätstoleranz und Resilienz und auch Kreativität. Diese kann man eigentlich nur im offenen und (selbst-)kritischen Dialog, in dem sich jeder auch selbst hinterfragen kann, im Kreis von vertrauenswürdigen Menschen erwerben.
Dabei ist es hilfreich, Situationen zu kreieren, die schnell Menschen ermöglichen, ihre Selbstwirksamkeit zu spüren. Situationen, die unübersichtlich sind und Menschen überfordern, erzeugen sonst leicht infantile Regressionen bei diesen. Das heißt, sie fallen in kindliche Muster von Weltbetrachtung zurück. Augen zu und das Problem ist weg. Oder ich fantasiere mir eine eigene, eine für mich bessere Welt (wie Trump das ständig tut).
Agile Praktiken können helfen, schnell Selbstwirksamkeit anregen und herbeiführen, weil sie kleine Schritte in unübersichtlichen und unklaren Situationen empfehlen, deren Erfolg mit einem ehrlichen Feedback sofort überprüft wird, bevor der nächste Schritt getan wird. Dabei wird aber nich ein großes Ziel aus den Augen verloren.
Hintergrund
– Uhlmann, Berit 2020: Wie Pandemien enden. Sars war schnell vorbei, die Pocken wurden von einem Impfstoff ausgerottet: Fünf Faktoren, die über die Dynamik von Infektionskrankheiten entscheiden. In: Süddeutsche Zeitung Nr. 291 vom 22.09.2020, Seite 13
– Schnabel, Ulrich 2020: Wir müssen auch anders können. Die Corona-Krise hat viele Gewissheiten erschüttert. Risikoforscher und Psychologen suchen nach Wegen, wie wir lernen, mit der Unsicherheit zu leben: In: DIE ZEIT Nr. 39 vom 17.09.2020, Seite 41
– Probst, Maximilian/ Schnabel, Ulrich 2020: Nichts ist in Stein gemeißelt. Forscher widersprechen sich, Erkenntnisse ändern sich. Kann man sich auf die Wissenschaft überhaupt verlassen? Ein Erklärungsversuch. In: DIE ZEIT Nr. 32 vom 30.07.2020, Seite 25-26
– März, Ursula/ Lebert, Stephan 2020: Stillstandsturm. Chronik der Corona-Krise: Über wund gewaschene Hände, den neuen Respekt vor Angela Merkel und die Angst vorm eigenen Tod. In: DIE ZEIT Nr. 32 vom 30.07.2020, Seite 46
– Beise, Marc 2020: Modelle für eine schwere Zeit. Anders als viele denken, wurde die Wirtschaftskrise nicht durch den staatlich verordneten „Lockdown“ ausgelöst. Tatsächlich ist sie eine zwangsläufige Folge der Corona-Pandemie. In: Süddeutsche Zeitung vom 22.08.2020, Seite 20
Literatur zu Cynefin
– D. Snowden. (2000) “Cynefin, A Sense of Time and Place: an Ecological Approach to Sense Making and Learning in Formal and Informal Communities” conference proceedings of KMAC at the University of Aston, July 2000 and D. Snowden. (2000) “Cynefin: a sense of time and space, the social ecology of knowledge management”. In Knowledge Horizons : The Present and the Promise of Knowledge Management ed. C Despres & D Chauvel Butterworth Heinemann October 2000
– D. Snowden (2005) “Multi-ontology sense making – a new simplicity in decision making” in Informatics in Primary Health Care 2005:13:00
-David J. Snowden & Mary E. Boone: A Leader’s Framework for Decision Making. In: Harvard Business Review. November 2007, S. 69–76 (https://hbr.org/2007/11/a-leaders-framework-for-decision-making)
– D. Snowden: Cynefin: a sense of time and space, the social ecology of knowledge management. In: C. Despres, D. Chauvel (Hrsg.): Knowledge Horizons: The Present and the Promise of Knowledge Management. Butterworth-Heinemann, Oxford 2000.
– D. Snowden: Multi-ontology sense making – a new simplicity in decision making. In: Informatics in Primary Health Care. 2005.
– D. Snowden: Perspectives Around Emergent Connectivity, Sense-Making and Asymmetric Threat Management. In: Public Money & Management. Volume 26 Issue 5, 2006, S. 275–277.
– D. Snowden, M. Boone: A Leader’s Framework for Decision Making. (PDF; 259 kB) In: Harvard Business Review. November 2007, S. 69–76.
– J. Verdon: Transformation in the CF, Concept towards a theory of Human Network-Enabled. (PDF; 5,2 MB) National Defence, Directory of Strategic Human Resources, Research Note, Ottawa Juli 2005.
– https://www.lean-agility.de/search/label/Beyond%20the%20Tellerrand