Schon seit vielen Jahren hatte sie sich vorgenommen, einmal den Sommer auf der eigenen Loggia zu verbringen. Es war dieser gemütliche Freisitz gewesen, der sie damals, nach dem Tod ihres Mannes, veranlasste, die eigentlich etwas zu kleine Wohnung anzumieten. 
Nicht Prospekte wälzen, in den Reisebüros anstehen und in letzter Minute Koffer packen müssen. Nicht ständig auf Fotosafarie, um nachher zu beweisen, dass und wo man überall war. Einfach und souverän auf die Frage „Und wo warst du im Urlaub?“ antworten: „Zu Hause.“ Und lächeln. 
Einmal nicht nach Hause kommen und mit blutendem Herzen die Schalen mit vertrockneten Geranien in den Müllschlucker kippen, sondern die im Frühjahr mit Liebe, Sorgfalt und etwas zu viel Dünger eingetopften Lobelien, Primeln und Pelargonien zu vollendeter Blüte pflegen, sich berauschen am Duft des kleinen Jasminstrauches (Spezialzüchtung für Stadtbalkone) und sich nachmittagelang kuscheln in einer von Pflanzen wind- und blickgeschützten Balkonecke gleich neben der Tür mit Tee, Gebäck und Lektüre bis zum Einschlummern. 
Neun bis zwölf Meter – so der nette Verkäufer in der Gärtnerei – solle die neue Spezialzüchtung unter guten Bedingungen pro Sommer wachsen. Der Polygonum aubertii celastrus orbiculatus, eine Kreuzung aus Knöterich und gemeinem Baumwürger. Unter Stadtbalkonbedingungen, also Smog, zu kleinem Topf und meist schwankenden Wassergaben immerhin noch Dreikommafünf bis Vierkommafünf Meter pro Wachstumsphase. 
Sie hatte sich beim Kauf noch ein Päckchen hochdosierten Spezialdünger in die Tüte stecken lassen, begleitet von skeptischen Blicken des Fachverkäufers.
Der Polygonum aubertii celastrus orbiculatus bildet tentakelförmige, vielfach sich verzweigende Triebe, die sich durch ständiges langsames Drehen um die eigene Achse, etwa fünf-, sechsmal in der Stunde, einen Halt zum Klettern suchen. Eine Schlingpflanze von äußerster Vitalität, gepaart mit kräftigem und schnellem Wachstum.
Nachdem die Staatsanwaltschaft ihre Tätigkeit beendet hatte, erhielten die Angehörigen von der Geschäftsführung des Bestattungsinstitutes – mit einem zusätzlichen Ausdruck des Bedauerns – eine Rechnung mit einem Extraposten über zweihundertfünfundneunzig Euro; für derartige Fälle seien sie eigentlich gar nicht ausgerüstet, und sie hätten sich erst entsprechendes gärtnerisches Werkzeug entleihen müssen.

Hintergrund
– Schmidt, Marie 2020: Fahrt zur Hölle. Unsere Autorin hat Urlaube schon immer gehasst: zu viel Sonne, zu viel Sand, viel zu hohe Erwartungen. Doch nicht einmal das Virus scheint der deutschen Reiselust etwas anhaben zu können. In: Süddeutsche Zeitung vom 25.07.2020, Seite 46.